Heimat Bote Nr. 39


Heimatsucher

Ich habe meine kleine Geschichte mit Heimatsucher überschrieben, weil ich meine, dass diese Bezeichnung für die Zeit nach dem Krieg immer noch richtig ist.

Als ich im Juni 1945 in Pfronten im Allgäu aus dem Lazarett und der amerikanischen Gefangenschaft entlassen wurde, überfiel mich zum ersten Mal das Gefühl verlassen zu sein, in einer solchen Dimension, dass ich es in diesem wunderschönen Alpental mit den wunderschönen Bergen nicht mehr aushielt, weil mir die weite Sicht wie in Großheidekrug, die schlichte Wald- und Hafflandschaft, fehlte. Zwar kletterte ich mit meinen Krücken auf den 1858 m hohen Breitenberg, um wenigstens einmal weit über die Berge hin nach Nordosten sehen zu können, aber unten in Pfronten wieder angekommen, kam schnell das Gefühl der Enge und des Eingesperrtseins zurück.

Da die Ungewißheit, wo sind meine Eltern, wo ist mein Bruder, wo sind meine Verwandten? immer größer wurde, packte meine paar Sachen, nahm die Krücken und zog los. Zuerst zum Bahnhof mit der bangen Frage, werde ich ohne Fahrkarte überhaupt in den Zug hineinkommen? Aber es war ganz einfach. Der Schalterbeamte sah mich kommen, fragte nicht viel, zeigte nur mit dem Daumen zum Bahnsteig und ließ mich durch. Und so war es auch im Zug. Der Schaffner fragte mich, wo willst du hin und ich antwortete, nach Ostpreußen, nach Königsberg und Großheidekrug. Der Schaffner war erst mal platt und faßte sich an den Kopf; dann aber sagte er, ich denke, du solltest erst mal weiter hoch nach Norden, nach Hannover und Hamburg fahren, denn da wo du hin willst ist der Russe. Gleich kam es von den Mitreisenden, aber wie kommt er über die Zonengrenze? Und dann ging das Geschnatter mit allen Fahrgästen los, und ich erfuhr zum ersten Mal, was alles in der Zeit, als ich im Lazarett in Pfronten lag, passiert war. Während der Fahrt nach Norden gab ich dann meinen splienigen Plan, nach Ostpreußen zu machen, endgültig auf und suchte, in Hamburg angekommen, sofort in der Suchkarteien nach meinen Angehörigen. Und siehe da, ich wurde fündig. Meine beiden Tanten Lina und Rosa waren mit meinem Vetter Manfred in das kleine Dorf Heilshoop geflohen und suchten nun meine Eltern, meinen Bruder Gerhard und mich.
Also, das war ja eine Freude und beflügelte mich, sofort von Hamburg aufzubrechen und nach Heilshoop zu kommen. Wie schwierig das damals war, kann heute keiner mehr ermessen. In Heilshoop angekommen brach ein lautes Freudengeschrei aus:
"Der Horst ist da, der Horst ist da!" Und ich glaube, Tante Lina rief sogar "Horstche", wie sie es in Großheidekrug immer gerufen hatte Ja, selbst die Fischersleute, bei denen meine Tanten untergebracht waren, freuten sich mit, und dies war sehr erstaunlich und ist nicht überall so gewesen, worüber ich heute noch sehr dankbar bin.

In Heilshoop fühlte ich mich bald wohl oder sagen wir, etwas besser. Tante Lina sorgte rührend dafür, dass wir nicht verhungerten und auch im Dorf wurden wir Flüchtlinge immer mehr und mehr akzeptiert. Und doch waren ja die bohrenden Fragen, wie es weiter geht, ob wir durch den Winter kommen und so weiter und so weiter, nicht beantwortet. Bei mir lastete die Ungewißheit stark, ob ich jemals ein Kunstbein bekommen würde, und ob ich wieder in den angefangenen Beruf einsteigen könnte.

Wenn diese Fragen mich bedrängten, verließ ich die Fischerkate und ging ein wenig um den Karpfenteich herum, um mich an dem schönen Blick über den Teich und über die aufkommenden Wolken am Himmel zu erfreuen. Hier muß mich der Fischer gesehen haben. Er wollte mit einem Kahn über den Teich fahren, um seine Karpfen zu füttern, damit sie Weihnachten dick und fett waren. Der Fischer, der mich mochte, fragte mich, ob ich mitfahren wolle und kam mit dem Kahn dicht an das Ufer heran. Ich wunderte mich, dass er mir zutraute, in den Kahn zu kommen aber er hielt das Boot fest, und ich krabbelte mit allen Vieren und den Krücken rein. Dann ruderte er in die Mitte des Teiches zog die Ruderblätter ein und fing an die Fische zu füttern. Ich saß im Boot und konnte es nicht fassen. Ich dachte, das alles sei ein Traum und ich war gar nicht in Schleswig-Holstein auf dem Moorteich in Heilshoop.

Meine Gedanken wanderten gut tausend km weit nach Osten und landeten auf dem Frischen Haff, Es war Sonntag und Heinz und Alfred, mit denen ich sonntags immer zusammen war, fragten mich: "Wollen wir nicht mit unserem Boot bis zum Damm fahren? Vielleicht sind ja schon die Johannisbeeren reif?" Ich freute mich sehr und wir nahmen aus der Hafenmeisterbude alles raus, was wir brauchten, brachten es in den Kahn, machten den Kahn los und ruderten dann abwechseld.
Wir brauchten bis zum Damm etwa eine knappe halbe Stunde. Es war ein herrlicher Tag, kaum Wind und die Sonne stand hoch und in herrlicher Pracht. Unsere Gedanken waren schon auf dem Damm der künstlich angeschüttet war, um das Versanden des Kanals zu schützen. Das war schon so lange her gewesen, als der Königsberger Seekanal gebaut wurde. Wir Jungs waren dazumal noch gar nicht geboren. Für uns war dieser Damm, allerdings nur im Sommer, immer ein abenteuerlicher Anziehungspunkt. Im Winter war es mehr der Kanal, wenn das Haff zugefroren war und wir mit Schlittschuhen bis zum Kanal liefen, um zuzukucken, wie der Eisbrecher den ihm folgenden Schiffen den "Weg" freimachte. Nun hatten wir aber Sommer. Auf dem Damm wuchsen allerlei Bäume und Sträucher wild durcheinander. Dazwischen lag aber auch viel weißer Sand, wo man sich nach dem Baden im Haff hinlegen konnte. Und da ging dann meine Phantasie mit mir durch. Ich stellte mir vor, dass dort im Sand ein Liebespaar liegen würde, und wir es beobachten konnten.

Aber es kam anders als man denkt. Während des Ruderns, wir hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, rief Alfred ganz laut und aufgeregt: "Seht einmal da, wer auf uns zukommt!" Wir schauten alle in die Richtung, wo Alfred hinzeigte und erschraken. Das waren ja unsere "Feinde", die Pracha-Holsteins oder die Deichsel-Holsteins oder die Admiral-Holsteins (irgend welche Holsteins müssen es gewesen sein, nur ich kam mit den vielen Beinamen in unserm Dorf sowieso nicht zurecht). Ich bekam richtig Angst, denn einer von denen hatte mich einmal, als ich noch nicht schwimmen konnte, in den vier Meter tiefen Hafen geschubst; war dann aber gleich nachgesprungen, um mich zu retten. Aber zum Überlegen und Angsthaben war jetzt keine Zeit mehr, denn die Holsteins kamen mit ihrem Fischerboot direkt auf uns zu, als ob sie uns entern wollten. Da gab dann Alfred auch schon das Kommando: "Klar Schiff zum Gefecht!" Wir drehte unser Boot etwas, nahmen die Ruder aus den Gabeln und holten weit aus, mit unsern Ruderblättern den "Feind" mit schweren Wassersalven zu beschießen. Die Admiral-Holsteins (oder wie sie auch hießen) waren dann auch mit einigen Schlägen von uns pitschenass; aber genau so schnell hatten auch sie die Ruderblätter aus den Gabeln gezogen, und nun bekamen wir die vollen Breitseiten ab und waren ebenfalls naß bis aufs Hemd, wie man so sagt.
Die Seeschlacht war voll im Gange, doch, das war ja nur ein Spiel; allerdings ein abenteuerliches nasses Spiel und wir mußten nun zusehen, wie wir wieder unsere Sonntagskleider trocken bekamen, denn unsere Eltern durften von dieser Seeschlacht nichts erfahren.

Dies alles ging mir blitzschnell durch den Kopf und nahm fast Gestalt an. Aber als ich wieder zu mir kam und merkte, dass dies hier nicht das Frische Haff, sondern ein kleiner Karpfenteich in Schleswig-Holstein war, sah ich den Fischer im Boot stehen und mit einem Arm wie ein Sämann Fischfutter auf den Moorteich streuen,. Ich sah ihm zu und staunte über diesen Fischer. Er sprach mit mir kein Wort. Er ließ mich einfach in Gedanken teilhaben an seiner Arbeit und das Werk seiner Hände zu betrachten.
Das tat mir gut.

Horst Schadwinkel




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