Heimat Bote Nr. 46

Hanni Lenczewski – Wittke, Palmnicken

Palmnicker Geschichten
Winter 1945 in Palmnicken

Der erste Winter nach der BEFREIUNG oder wie man es auch immer nennen will, brachte neben allem anderen, eine große Zeit- und Lebensumstellung mit sich. Wir hatten Moskauer Uhrzeit bekommen und mussten die Uhren zwei Stunden vorstellen. Im Sommer hatten wir die Zeitumstellung nicht so gravierend gefunden, aber im Winter machte sie sich doch sehr bemerkbar. Dazu kam, dass es keinen Strom gab, was uns um ein Jahrhundert zurück warf. Wir hatten ja auch dadurch bedingt kein Leitungswasser, weil der Wasserturm nicht vollgepumpt werden konnte. Dass es keine Straßenbeleuchtung gab, kannten wir ja noch von der Kriegszeit her, aber ohne Strom und Wasser zu leben war schon schwer. Im Dorf gab es keine Brunnen und wir mussten abends, wenn wir von der Arbeit kamen, auch noch von Gott weiß woher, Wasser besorgen. Wir lebten wie auf dem Mond, denn Radios besaßen wir nicht mehr, die uns ohne Strom sowieso nichts genützt hätten, und es gab natürlich auch keine deutschen Zeitungen und auch keine Post. Wir lebten wie in einer längst vergangenen anderen Welt.
Jeden Morgen um sieben Uhr russischer Zeit, also nach unserer mitteleuropäischen Zeit fünf Uhr früh, mussten wir an der Kommandantur zur Arbeit antreten. Die Kommandantur befand sich mitten im Dorf. Die Russen kamen, um uns dort abzuholen und leuchteten uns mit Laternen ins Gesicht. Nach nicht nachvollziehbaren Kriterien suchten sie sich die jungen Mädchen und Frauen für ihre Arbeit aus. Meistens mussten wir Bäume fällen, Holz sägen und hacken oder saubermachen oder im Winter Schnee schippen. Wir Deutschen wohnten in der Dorfmitte und die Russen auf "Süd". Wir waren durch einen Bretterzaun von einander getrennt. Am Bernsteinhäuschen zwischen den Ortsteilen, war eine Schranke errichtet, durch die wir hindurch mussten, und dort bekamen wir einen Stempel auf eine Karte gedrückt, mit der wir uns abends 200 Gramm Brot (chleb auf russisch, von uns Kleber genannt, weil es so aussah und schmeckte) abholen durften. Da es morgens noch stockdunkel war, verschwanden immer einige aus der marschierenden Brigade, (meistens Mütter, die Kinder zu Hause hatten) durch den Park nach Hause, nachdem sie den Stempel erhalten hatten. In dem Bretterzaun, der vom Bahnhof bis zur See gezogen war, klafften einige Lücken, durch die man schlüpfen konnte.
Kurz vor Weihnachten fing es an zu stiemen. Als wir morgens aufwachten, lag das Land tief verschneit in der Dunkelheit und wir vier Frauen aus unserer, heute sagt man WOHNGEMEINSCHAFT, die einigermaßen gut zu Fuß waren, beschlossen zur Feldscheune Richtung Bardau - Bersnicken zu gehen und nicht zur Kommandantur. In dieser Scheune waren Getreidegarben gelagert, das hatte sich rumgesprochen. Da wir von 200 Gramm klebrigem Brot nicht leben konnten, mussten wir sehen, wie wir durch den Winter kamen, und Weihnachten stand vor der Tür. Wir waren natürlich immer noch der Meinung, es ist alles deut-sches Land, und es ist unser gutes Recht, uns das zum Leben zu nehmen, was wir brauchen, um nicht zu verhungern. Man machte zapzarap, wie die Russen sagten, um zu überleben.
Wir zogen also los, morgens im Dunkeln, jeder mit einer Schere und mit einer Zich bewaffnet, Richtung Chaussee. Hinter der Brücke über dem Bahngleis lag der Schnee schon kniehoch und wir wurgelten uns da durch. Auf der freien Strecke stiemte es noch schlimmer, aber wir erreichten die Feldscheune und waren dort auch nicht die einzigen, die Ähren sammeln wollten. Ich weiß nicht mehr, ob die Scheune keine Wände gehabt hat oder ob die verheizt worden waren, jedenfalls stiemte es auch in die Scheune hinein. Wir verkrochen uns so gut es ging in das Stroh und fingen an, Ähren zu schneiden. Plötzlich erschien ein Russe. Ach du grieset Kattke! Wir sahen ihn schon von weitem kommen, machten uns so klein wie möglich und versuchten uns im Stroh zu verkriechen. Er hatte uns natürlich bemerkt, schaute uns ein Weilchen zu, sagte nichts und verschwand. Was waren wir froh! Man glaubt ja nicht, wie viel in so eine Zich reingeht, bis sie gefüllt ist, man musste nur tüchtig premsen! Mit eiskalten Fingern geht es nicht so gut und mit Handschkes noch schlechter (Handschkes mit Ösen).
Durchgefroren bis auf die Knochen traten wir mittags mit unseren Ähren endlich den Heimweg an, verklahmt wie wir waren, wollte er kein Ende nehmen. Die Kurve vor der Brücke am Dorfeingang war vollständig zugestiemt, denn sie war hier wie ein Hohlweg. Wir krochen und keuchten durch die Schneemassen und mussten auch noch aufpassen, dass unsere ausgebaschelten Schuhe nicht im Schnee stechen blieben.
Dann kam Weihnachten und Muttchen hatte aus den Getreidekörnern und Kartoffelschalen Brot gebacken. Im Herbst hatten wir tatsächlich von unserem Kartoffelacker ein paar Kartoffeln ernten können, was ein Jahr später nicht mehr möglich war. Es gab auch noch ein paar gekochte, tranige Kakel dazu, die sich in den Fischernetzen verfangen hatten. Opa und Muttchen arbeiteten in der Fischereibrigade, daher die Kakel (Was Kakel sind, weiß ich nicht genau. Hühnerähnliche Vögel, die auf der See leben).
In der Baptistenkapelle, die Pfarrer Jänicke zur Verfügung hatte, er wohnte dort mit anderen Familien zusammen, fand die Christmette statt. Es war sehr feierlich.
Lehrer Kreck, der natürlich keine Lehrerstelle mehr hatte, es gab ja keine Schule, gründete einen Kirchenchor. Er hatte zwei Lieder mit uns eingeübt. Pfarrer Jänicke begleitete auf einem uralten Harmonium den Gesang der Gemeinde und las die Weihnachtsgeschichte vor. Manche Träne rollte bei dem Gesang, dem Kerzenschein und dem Klang des Harmoniums, denn wir dachten an die vielen Toten des Jahres und an unsere Angehörigen, von denen wir nach der Flucht und Kriegsende noch keine Nachricht bekommen hatten.
Das neue Jahr wurde dann mit Holunderbeersaft begrüßt, in der Hoffnung, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten. Das war aber leider ein Trugschluss. Wir durften aber die Flochten nicht hängen lassen.


Die Geschichte mit der Pogge

Da es ja kein Leitungswasser gab, mussten wir zwei jungen Mädchen, für eine russische Küche Wasser vom Bardauer Teich holen. Es wurde schon dunkel, als wir mit einem Tankwagen, vor dem ein Pferd gespannt war und natürlich mit einem Russen als Begleiter, loszuckelten. Im Eis war ein Loch geschlagen worden, aus dem wir mit einer Schöpp das Wasser in den Tank befördern mussten. Nicht so ganz einfach, wir betreischten uns von oben bis unten. Unsere nasse Kleidung fror sofort steif in der Kälte. Ich hatte einen von Muttchen genähten Mantel an, der aus einem Wandbehang angefertigt worden war, bedruckt mit dem Tannenbergdenkmal. (Denkmal aber nach innen.) Der Mantel hatte eine angekräuselte Passe, damit ich viel gegen die Kälte darunter anziehen konnte. Ich sah aus wie ein Puskedudel. Zu Hause angekommen, zog ich den Mantel aus, und er stand, kick mol an, steifgefroren alleine in der Küche.
Am anderen Tag, so gegen Mittag, mussten wir zwei Marjellens auf Befehl hin, in der Küche antanzen. Die Küche befand sich im Keller des Konsums. Wir freuten uns auf eine warme Suppe, aber nein! Der Koch schimpfte uns aus, und wir verstanden immer nur Sabotage. Sabotage war bei den Russen ein geflügeltes Wort, wir wussten nur nicht, was wir damit zu tun hatten. Dann wurde ein Russe geholt, der deutsch sprach, und der erklärte uns, dass wir eine Pogge mit in den Tank gefüllt hatten. Wir zwei konnten uns das Lachen nicht verkneifen und auch der kleine Russe, der in Deutschland als Fremdarbeiter gelebt hatte und nun übersetzte, lachte mit. Eine Suppe bekamen wir leider nicht.
So, --das ist ein bisschen erzählt von unserem ersten Winter in der Russenzeit vor 60 Jahren.
Ich wünsche allen, die meine Geschichte lesen, eine schöne Adventszeit, frohe Weihnachten und Gesundheit für das Neue Jahr.

Eure Hanni Lenczewski – Wittke





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